Fachgespräch in Kempten zur Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigt aktuelle Entwicklungen auf
„Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher psychisch gefährdet ist, dann ist das für seine ganze Umgebung eine enorme Herausforderung“. Bezirkstagspräsident Jürgen Reichert weiß als ehemaliger Direktor einer großen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung aus jahrzehntelanger Erfahrung, wie belastend diese Situation für die ganze Familie, aber auch für die Schule und andere Einrichtungen, die die betroffenen Kinder besuchen, sein kann.
„Die Erwartungen an das Hilfesystem sind dabei enorm hoch - umso wichtiger ist es, deutlich zu machen, welche Angebote es in der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher bereits gibt, wo ihre Möglichkeiten, aber auch die Grenzen liegen und wo es Bedarf an Weiterentwicklung gibt“, so Reichert.
Um dies am Beispiel des südlichen Schwaben einmal auszuloten, hatte der Bezirk zu einem Fachgespräch mit Vertretern der psychiatrischen Versorgung, der Jugendämter und der Jugendhilfe, aus dem Schulbereich und dem Gerichtswesen eingeladen. Der Bezirk Schwaben ist auf politischer Ebene zuständig für die psychiatrische Versorgung in der Region, im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie erfüllt dies im Auftrag des Bezirks die Katholische Jugendfürsorge mit eigenen Einrichtungen (Fachklinik Josefinum) in Augsburg, Kempten und Nördlingen.
Die Statements der Fachleute machten deutlich: Geht man von den offiziellen Bedarfsangaben aus, dann ist das Allgäu im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie prinzipiell sehr gut versorgt. Allein im Bereich der niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater liege der Versorgungsschlüssel derzeit bei rund 157 Prozent, so Dr. Michaela Barthlen-Weis aus Kaufbeuren. Allerdings: Diese bundesweit gültigen Parameter stützen sich auf Bedarfswerte aus 1990 und halten mit der Entwicklung nicht Schritt. Denn tatsächlich nehmen sowohl bei den niedergelassenen Ärzten, als auch in der Institutsambulanz und im stationären Bereich der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Kempten der Aufnahmedruck, die Behandlungsfälle, die Dauer aufgrund der Komplexität der Krankheiten und die Belegungstage konstant zu.
„Das hat sehr vielschichtige Gründe“, betonte Professorin Dr. Michele Noterdaeme, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Josefinum. Zum einem sei erfreulicherweise die Sensibilität für das Thema gestiegen. Kinder, die früher auch mit einer schweren psychischen Erkrankung, beispielsweise einer Angststörung, unbehandelt geblieben seien, würden inzwischen schneller und richtig diagnostiziert. Zum anderen hätten sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert. So nehmen die Zahlen essgestörter Kinder- und Jugendlicher weiterhin massiv zu, veränderte Wertevorstellungen und Rollenbilder haben dabei eine wesentliche Funktion. Auch der Faktor „Armut“ präge Kindheit: „Zu uns kommen Kinder in die Klinik, die haben nichts dabei als eine Plastiktüte mit einer Hose und zwei T-Shirts.“
Allerdings warnten die Fachleute auch vor einer „Psychiatrisierung“ des Problems. „Ein ärztliches Gutachten ist kein Rezept“, brachte dies Petra Mayer, Jugendamtsleiterin im Landkreis Ostallgäu, auf den Punkt. Seien Kinder psychisch auffällig, so hätten Eltern oftmals die Erwartung, ein stationärer Aufenthalt für das Kind sei die Lösung des Problems. „Wir dürfen jedoch nicht nur den medizinischen Ansatz in den Blick nehmen, sondern müssen alle therapeutischen und pädagogischen Hilfen sinnvoll kombinieren, vor allem aber dürfen wir auch die Eltern nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.“ Das Kind, so bestätigte Professorin Noterdaeme, sei oftmals nur der „Symptomträger“. Diese Entwicklungen, so Bezirkstagspräsident Jürgen Reichert, müsse man gemeinsam bewältigen.
Als ein Ergebnis des Fachgesprächs wurde daher vereinbart, die Zusammenarbeit der Institutionen auf eine strukturelle Basis zu stellen und regelmäßige Arbeitstreffen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie einzuführen.
Auf politischer Ebene werde man weiterhin darauf drängen, die Bedarfsparameter bei der ärztlichen Versorgung an die aktuelle Situation anzupassen, betonten Reichert und Celia Wenk-Wolff, Leiterin des Referats für Gesundheitswesen und Psychiatrie beim Bayerischen Bezirketag.
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